Vortrag in der Aalener Stadtkirche zur 500-er-Reformation:
AIZ-Leserwunsch zu Weihnachten 2015: De-
shalb ist Ulrich Pfeifle ein "Evangelischer"
Ausgerechnet am 31. Oktober - dem
Reformationstag - wurde
Pfeifle als Pfarrerssohn geboren: "Evangelischer geht’s nicht"
Von Aalens Ex-OB Ulrich Pfeifle
Ulrich
Pfeifle auf Schloß Fachsenfeld. AIZ-Fotos: Dieter Geissbauer
Aalen. Warum ist eigentlich unser Ex-OB Ulrich Pfeifle ein "Evang-elischer"
und zwar ein "vorbildlicher", der sogar in der Stadtkirche Aalen zum Auftakt
der Feierlichkeiten zum 500-jährigen Jubiläum der Reformation einen Vortrag
halten durfte, der in Aalen unvergessen bleibt und gerade an Weihnachten
ideal dazu passt in das Herz unseres ehemaligen OB's Ulrich Pfeifle zu
schauen und daraus die positiven Lehren zu ziehen. Aber: Die AIZ war damals
im Gegensatz zum Ex-Ministerpräsidenten Teufel - nicht dabei als Ulrich
Pfeifle sein Glaubensbekenntnis begründete, als ihm unser heutiger Dekan
Ralf Drescher die öffentliche Gelegenheit dazu gab.
Weihnachtsausstellung und Verkauf auf Schloß Fachsenfeld 2015.
Als nun wir zu Weihnachten die 100 Jahre alten Figuren und Spielzeuge des
Barons von Fachsenfeld vorstellen durften haben wir die Gelegenheit beim
Schopf ergriffen und Ulrich Pfeifle darum gebeten, in seinem reichen _Fundus
zu schauen ob es von dieser Rede in der Stadtkirche noch ein Manuskript
gibt, das wir zu Weihnachten 2015 veröffentlichen könnten und zwar ungekürzt
und zu Weihnachten passend. Pfeifle wurde fündig und hat uns das 33-seitige
Werk mit dem Titel "Typisch Evangelisch" für das Weihnachtsfest 2015 unserer
treuen AIZ-Leser zugeschickt und wir haben es in grafisches Format (keine 31
kleine zweiseitigen Blätter sondern Fließtext) in vielen Stunden ins Format
gebracht und sind stolz dass auch anderen dieses Werk von Pfeifle vorhanden
bleibt und sicherlich in die Geschichte Aalens eingeht:
Dieter Geissbauer
Weihnachten
2015 auf Schloß Fachsenfeld
Typisch evangelisch: Vom
Pfarrhaus ins Rathaus:
Vortrag von Ulrich Pfeifle,
Oberbürgermeister a.D. am 25. Oktober 2014 in der Stadtkirche Aalen zum
Auftakt der Feierlichkeiten zum 500 jährigen Jubiläum der Reformation
Liebe Mitchristen, evangelische und, sofern Sie sich hereingetraut haben,
auch katholische, liebe sonstigen Mitbürgerinnen und Mitbürger,
als mich Dekan Drescher Anfang Juli dieses
Jahres anrief mit der Frage, ob ich zum Auftakt der
Reformations-feierlichkeiten in Aalen heute und hier den Festvortrag halten
würde, da habe ich zuerst mal kräftig geschluckt.
Bekenntnis:
Evangelisch bin ich; ja: Von der
Geburt an und aus Überzeugung bis heute
Denn: Evangelisch bin ich; ja. Von Geburt an und aus Überzeugung bis heute.
Aber ich bin noch nie aufgefallen als notorischer Kirch-gänger oder als
besonders kämpferischer Verfechter des Protest-antismus. Ich habe deshalb
versucht, das Ansinnen abzuwehren. Habe andere Namen ins Spiel gebracht.
Aber es hat alles nichts genutzt. Und so stehe ich nun heute vor Ihnen,
oder, um mit Martin Luther auf dem Reichstag zu Worms zu sprechen: "Hier
stehe ich. Ich kann nicht anders und Gott helfe mir. Amen."
Spielt heute
noch an 100 Jahre alter Baron-Eisenbahn: Ulrich Pfeifle
Dekan Drescher hat mir freundlicherweise freie Hand gelassen bei der Wahl
des Themas. Ich habe mich entschieden für die Überschrift: „Typisch
evangelisch. Vom Pfarrhaus ins Rathaus". Ausgehend von meiner eigenen,
durchaus wohl typisch evangeli-schen Vita will ich in meinen Ausführungen
den Bogen spannen vom Reformationsgeschehen in der Reichsstadt Aalen bis hin
zu den heutigen ökumenischen Bemühungen unterm Aalbäumle.
Typisch evangelisch war auf jeden Fall meine Geburt. Ich wurde als 5. Kind
in eine schwäbische Pfarrersfamilie hineingeboren, und dies nicht an
irgendeinem Tag, sondern ausgerechnet am 31. Oktober, dem Reformationstag.
Evangelischer geht’s gar nicht. Mein Vater war damals Pfarrer an der
Stiftskirche in Stuttgart, und in jenen Zeiten, übrigens trotz Krieg, war es
in evangelischen Pfarrhäusern noch Brauch und Sitte, zahlreiche Kinder zu
haben.'
Die Stiftskirche in Stuttgart war und ist bis heute der Mittelpunkt des
Protestantismus in Württemberg schlechthin, und trotz Krieg und trotz
Beeinträchtigungen durch die Nationalsozialisten war die Kirche damals immer
rappelvoll. Und als der damalige württember-gische Landesbischof Theophil
Wurm von den Nazis unter Haus-arrest gestellt wurde, da zog die Gemeinde
nach dem Gottesdienst unter Führung ihrer Pfarrer Kurt Pfeifle und Helmut
Thielicke, dem späteren bedeutenden Theologieprofessor, zum Haus ihres
Bisch-ofs und sang dort Lutherchoräle. Bischof Wurm war ein aufrechter
Gegner der Nationalsozialisten. Er hatte nichts am Hut mit den sog.
Deutschen Christen, die sich unter Führung des Reichsbischofs Ludwig Müller
mit den regierenden Nationalsozialisten unterwürfig arrangierten. Im Ländle
gab es in diesen Jahren das treffende geflügelte Wort: „In Württemberg
kriecht alles außer dem Wurm".
Vor einigen Monaten besuchten meine Frau und ich in Berlin im dortigen
deutschen historischen Museum die großartige Ausste-llung: „Das evangelische
Pfarrhaus". In wirklich beeindruckender Weise wurde dort die besondere Rolle
des Pfarrhauses seit Luther bis in die Gegenwart, wie z.B. bis zu den
Pfarrerstöchtern Gudrun Ensslin oder Angela Merkel dargestellt. In vielen
Facetten dieser Ausstellung wurde mir wieder einmal sehr klar, wie prägend
für mein weiteres Leben doch dieses Aufwachsen in einem schwäbischen
Pfarrhaus war.
Ich sagte, die Geburt war typisch evangelisch. Doch lassen Sie mich das
etwas relativieren. Ich weiß nicht, ob Sie sich auch schon mal solche
Gedanken bzgl. Ihrer Geburt gemacht haben, wie ich sie im Verlauf der
letzten 6 Jahrzehnte immer wieder hatte. Ich habe mich dabei gefragt, wie
eigentlich mein Leben und damit auch mein Glaube verlaufen wäre, wenn ich
statt in eine typische schwäbische Pfarrersfamilie z. B. in eine katholische
Lehrersfamilie hinein geb-oren worden wäre oder wenn ich in Istanbul als
Sohn muslimischer Eltern zur Welt gekommen wäre.
Ich muß zugeben, ich habe bis heute nie eine ganz befriedigende Antwort auf
diese Fragen gefunden, sie auch nicht von meinem Vater erhalten, der sich
darauf zurückzog, es sei eben Gottes Wille gewesen, daß ich so und nicht
anders geboren wurde. Das akzeptierte ich zwar, schlußfolgerte aber dann
daraus auch, daß es ebenso Gottes Wille war, daß mein Freund katholisch und
daß andere Jungs auf der Welt muslimisch waren. Diese Grundfrage hat mich
jedenfalls mein Leben lang Toleranz üben lassen gegenüber allen Menschen
anderen Glaubens.
"In meiner Jugend
war ja der Aalener Begriff
Ökumene von heute noch ein Fremdwort"
In meiner Jugend war ja der Begriff Ökumene noch ein totales Fremdwort.
Es kam auch durchaus vor, vor allem auf dem Land, daß Katholiken am
Karfreitag und Protestanten an Fronleichnam ihre Wäsche heraushängten. Auch
waren Mischehen in vielen Familien nahezu undenkbar. Das alles konnte ich
auf der Grundlage meiner unbeantworteten Fragen schon damals überhaupt nicht
verstehen. Aber im Verlauf meines weiteren Lebens, geprägt von der
evangelischen, fast pietistischen Erziehung, freute ich mich immer mehr über
mein Evangelischsein und wollte es auch nie ändern. Vielleicht spielte da im
Unterbewußtsein auch Goethes Faust mit: „ Was Du ererbt von Deinen Vätern,
erwirb es, um es zu besitzen".
Was war und ist nun das typisch evangelische am evangelischen Pfarrhaus? Das
typischste ist, daß es dieses Pfarrhaus überhaupt so gibt, das heißt, daß
seit Luther nicht nur der Pfarrer im Pfarr-haus wohnt, sondern mit ihm seine
Frau und seine Kinder, bzw. heute auch die Pfarrerin mit ihrer Familie.
Die Abschaffung des Zölibats war zweifellos auch ein wichtiges Erg-ebnis der
Reformation. Ich mag nicht richten über die Beibehaltung des Zölibats in der
katholischen Kirche bis heute. Aber fest steht für mich, daß die typische
evangelische Pfarrfamilie die Entwicklung der evangelischen Kirche bis heute
ganz entscheidend geprägt und positiv beeinflusst hat.Typisch evangelisch in
den evangelischen Pfarrhäusern war sodann immer bis heute die Liebe zur
Musik und daraus folgernd die besondere Affinität zur Kirchenmusik.
Es war selbstverständlich in den Pfarrhäusern, daß gemeinsam Choräle
gesungen wurden, und daß jedes Kind ein Instrument erlernte. Bei mir waren
das Geige und Klavier. Selbstverständlich war auch, jedes Jahr in der
Weihnachtszeit eine Aufführung des Weihnachtsoratoriums und in der
Passionszeit eine Aufführung der Johannespassion oder der Matthäuspassion zu
besuchen.
Die Grundlage dafür hat natürlich Martin Luther gelegt. 36 Lieder sind von
ihm erhalten; bei 20 hat er auch selbst die Melodie geschrieben. Etliche
haben meine Kindheit mitgeprägt und sind bis heute Ausdruck evangelischen
Selbstverständnisses, wenn ich etwa an" ein feste Burg ist unser Gott" oder
an" Gelobet seist Du Jesus Christ" denke.
Martin Luther
gelungen, die Gemeinde stärk-
er als bisher am Gottesdienst zu beteiligen
Durch sehr eingängige, teils schon tradierte Melodien und vor allem
durch eingängige deutsche Texte ist es Martin Luther gelungen, die Gemeinde
stärker als bisher am Gottesdienst zu beteiligen, so wie dies natürlich vor
allem auch durch die nunmehr in deutscher Sprache gehaltene Predigt
geschehen ist..
Und so wie Luther propagierte, daß Kinder über die Musik in den Glauben
hineinwachsen, haben über Jahrhunderte Pfarrerskinder zu Hause die Liebe zur
Musik eingeimpft bekommen. Manchmal ist das allerdings auch ausgeartet, wie
bei uns zu Hause, wo 2 Brüder Musik studierten und jeder täglich auf seinem
Instrument 5 Stunden übte. Da mußte selbst unser Vater manchmal in den Wald,
um seine Predigt zu entwerfen, und ich benötigte Oropax, um die Hausaufgaben
zu machen.
Nicht nur für uns evangelisch geprägte Menschen, sondern darüber hinaus für
zig Millionen Musikliebhaber auf der ganzen Welt, ist der urevangelische
Komponist Johann Sebastian Bach mit seinen Kompositionen die Vollendung der
Musik schlechthin. Seine Motetten und Kantaten ebenso wie seine Oratorien
sind Ausdruck einer tiefen Frömmigkeit, ja sie sind Verkündigung in reinster
und schönster Form. Nicht umsonst hat der schwedische Bischof Söderblom 1929
für Johann Sebastian Bach die schöne Bezeich-nung als 5. Evangelisten
gefunden.
Jedenfalls gehört zum evangelischen Kirchenleben ganz wesentlich die
Kirchenmusik dazu, und ich bin dankbar dafür, daß gerade hier in Aalen die
Kirchenmusik an der Stadtkirche unter der Leitung von Kirchenmusikdirektor
Haller so einen hohen Stellenwert besitzt, so wie wir dies auch heute wieder
erleben dürfen. Und wenn man von Kirchenmusik gerade in Württemberg spricht,
dann darf man nicht unerwähnt lassen die Posaunenchöre, die sich regelmäßig
zur evangelischsten aller evangelischen Kirchenmusikveranstaltungen treffen,
nämlich zum Landesposaunentag in Ulm. In diesem Jahr haben dort 7.000
Bläserinnen und Bläser teilgenommen.
Typisch evangelisch, gerade in der württembergischen Landesk-irche, waren
über Jahrhunderte die evangelisch- theologischen Seminare in Schöntal und
Urach, sowie in Maulbronn und Blaubeuren. Es war üblich, daß Söhne aus
Pfarrersfamilien, aber nicht nur Pfarrerskinder, nach Bestehen des nicht
ganz einfachen sog. Landexamens dort ihre letzten 4 Gymnasialjahre
absolvierten.
Großartige schwäbische Köpfe sind aus diesen Eliteanstalten hervorgegangen,
wie z.B. Friedrich Hölderlin, Johannes Kepler oder David Friedrich Strauß.
Erklärtes Ziel der Seminare war und ist es, von dort den Pfarrernachwuchs zu
rekrutieren. Das hat meistens funktioniert; nicht jedoch bei den Pfeifles,
obwohl 2 Brüder von mir und auch ich selbst diese Pfarrers-Schmiede
besuchten.
Die beiden Brüder entwickelten andere berufliche Interessen und bei mir
führte der früh entwickelte rebellische Geist zum vorzeitigen Abgang aus dem
Seminar Schöntal. Die Geschichte ist schnell erzählt: 1958,
Fußballweltmeisterschaft in Schweden. Wir waren gerade seit 3 Monaten im
Seminar. Fernseher gab's keinen, aber ein Radio, um das wir uns beim Spiel
Schweden- Deutschland scharten. Um 9 Uhr abends war jeden Tag Abendandacht.
Doch dummerweise war das Spiel um diese Zeit noch nicht aus. Trotz
mehrfacher Aufforderung schwänzten wir zu dritt die Abendandacht. Das hatte
böse Folgen: Zum einen wurden wir am nächsten Morgen vor versammelter
Mannschaft abgekanzelt , und was noch schlimmer war, uns wurde der nächste
Reissonntag gestrichen, der ohnehin nur alle 4 Wochen stattfand.
Das ging mir gewaltig gegen den Strich und zu allem Unglück bekam ich genau
in der Zeit Hermann Hesses Novelle unterm Rad in die Hand, in der dieser
schilderte, wie er aus dem Seminar Maulbronn abgehauen war. Jedenfalls
meldeten mich meine Eltern nach einem halben Jahr schweren Herzens wieder
ab. So ist nichts aus meinen Pfarrerambitionen geworden, und ich wurde dann
halt Oberbürgermeister. Zwei der vier Seminare wurden zwischenzeitlich
geschlossen, Maulbronn und Blaubeuren existieren noch mit sicherlich
zeitgemäßeren Erziehungsmethoden.
Typisch evangelisch
war es in evangelisch-
en Pfarrhäusern daß Pfarrer versetzt wurden
Typisch evangelisch war es früher in evangelischen Pfarrhäusern auch,
daß Pfarrer alle paar Jahre versetzt wurden. Das bedeutete für uns im
Schnitt alle 5 Jahre einen gewaltigen Umzug und den entsprechenden
Schulwechsel. Die Stationen waren Stuttgart, Böhringen, Backnang, wieder
Stuttgart und schließlich Reutlingen. Vielleicht war es diese Gewöhnung ans
Umziehen, daß es auch nach dem Verlassen des Elternhauses viele Stationen in
meiner Vita gab, nämlich Tübingen und Hamburg, Konstanz und wieder
Reutlingen, bevor ich als verhinderter Pfarrer schließlich im Jahre 1976 als
Oberbürgermeister in Aalen landete. Was hat zu dieser Berufsentscheidung
geführt?
Das waren vielfältige Einflüsse wie die Juristerei, die Arbeit in der
Landesverwaltung und das kommunalpolitische Engagement in Reutlingen. Aber
ich glaube, die Prägung durch das protestantische Elternhaus hatte an dieser
Berufsentscheidung auch ihren wesentlichen Anteil. Mein Vater hatte
vorgelebt, stets für andere dazusein. Auch sein Beruf, vor allem als Dekan
und Prälat unterlag einer permanenten Öffentlichkeit und das Redetalent habe
ich vielleicht ein bißchen geerbt. Jedenfalls war unser Vater nicht nur
meiner Meinung nach ein großartiger Prediger.
Beim OB Wahlkampf vor nahezu 40 Jahren spielte die Konfessions-zugehörigkeit
der Bewerber noch eine wesentlich gewichtigere Rolle als heute. Daß ein
evangelischer Pfarrer mich öffentlich unter-stützte, erregte ein deutliches
Mißbehagen beim damaligen Dekan. Und als eine Zeitung gar schrieb, der
Kandidat Pfeifle werde „von gewissen evangelischen Kreisen" unterstützt, da
war man auf katholischer Seite „not amused" ,und hat mich beim Gemeindefest
in St. Maria oder beim Kolpingfest ziemlich frostig empfangen. Das hat sich
im Lauf der Jahre und Jahrzehnte allerdings dann doch gründlich gewandelt.
Aber diese Empfindlichkeiten im Wahlkampf und die total untersch-iedlichen
Wahlergebnisse in der stärker evangelischen Kernstadt und den überwiegend
katholischen Stadtbezirken haben mich dann dazu geführt, mich näher mit den
konfessionellen Gegebenheiten in der ehemaligen Reichsstadt und ihren
einzelnen Teilen zu be-schäftigen.
Im zweiten Teil meiner Ausführungen will ich nun darauf näher eingehen,
insbesondere heute natürlich auf das Reformations-geschehen. Die Olamer sind
von Haus aus eher bedächtige, auf Neuerungen nicht unbedingt gleich
anspringende Menschen. So war`s auch schon zu Reformationszeiten vor 500
Jahren. Aalen ist die letzte deutsche Reichsstadt überhaupt, die sich der
Reformation angeschlossen hat.
Jahrbuch:
Vielleicht nimmt Oberbürgermeis-
ter Rentschler die Anregung mit ins Rathaus
Wie das kam, ist bis heute nicht umfassend aufgearbeitet. Eine sehr
interessante Darstellung der Ereignisse wurde im Jahr 1926 in der
Zeitschrift der Spion von Aalen von Stadtpfarrer Zeller veröffentlicht. Das
war eine echte Fleißarbeit. Aber ich meine, die Zeit ist reif für eine
moderne Aufarbeitung, z. B. in Form eines Aal-ener Jahrbuches. Vielleicht
nimmt Herr Oberbürgermeister Rent-schler diese Anregung mit ins Rathaus.
Doch zurück zur Frage: Warum waren die Aalener damals so spät dran mit der
Reformation. Warum hat es nahezu 60 Jahre seit dem Thesenanschlag Luthers im
Jahr 1517 gedauert, bis die Reformation sich im Jahr 1575 endgültig in Aalen
durchsetzte? Die Erklärung ist einfach: Die Aalener, sowohl die
Bürgermeister als auch der Gemeinderat und die Pfarrer fürchteten sich nicht
zu Unrecht vor dem allgewaltigen katholischen Fürstprobst in Ellwangen.
Dieser versuchte, mit allen Mitteln die Reformation in seinem
Einfluß-bereich zu unterbinden. Und wenn ich sage, mit allen Mitteln, dann
beweist dies z. B. ein Vorgang aus dem Jahr 1526, als 3 der Reformation
zuneigende Männer auf dem Ellwanger Marktplatz enthauptet wurden. Schnell
herumgesprochen hatte sich in der Reichsstadt auch die Tatsache, daß der von
der Reformation überzeugte Mantelhofbauer entführt und aufgehängt wurde.
Es wurden also wirklich harte Bandagen angelegt, um die Reform-ation zu
verhindern. Und ich meine, daß gerade diese Art des Vorgehens auch aus
heutiger Sicht ein klarer Beweis für die Notwendigkeit der Reformation ist.
Die Kirche war aus den Fugen geraten. Es ging um Geld, um Macht, um
territorialen Einfluß. Die Verkündigung der frohen Botschaft war darüber in
den Hintergrund getreten. Die Aalener waren sicher nicht feige, aber die
realen machtpolitischen Gegebenheiten waren eben so, daß die Reichs-stadt in
allen Himmelsrichtungen vom Einflußgebiet des Fürstpro-bsts umzingelt war,
der sogar auf Markung Aalen beträchtlichen Grundbesitz hatte. So ließ sich
also in den Anfangsjahren der Reformation jeglicher Reformeifer leicht
unterdrücken.
1525 kam ein Pfarrer nach Aalen namens Konrad Delphinus. Er war für viele
Gedanken der Reformation offen. Das ermunterte den Rat der Stadt, ihn sogar
offiziell zu evangelischer Predigt zu ermuntern. Der Bürgermeister teilte
dem Pfarrer schriftlich mit: „Pfarrherr, meine Herren haben einhelliglich
beschlossen, und ist ihr ernstlich Meinung, Ihr wollet das Wort Gottes
predigen, pur, lauter, rein ohne jemandes Ansehen, weder Bischof noch
Pfaffen".
Doch dieser zarte Reformanflug war bald wieder im Keim erstickt. Der Pfarrer
wurde versetzt und in einem neuerlichen Gemeinder-atsbeschluß hieß es nun:
„"Wir haben bisher der Religion der Väter unerschütterlich gehuldigt und die
Kommunion einerlei Gestalt erhalten. Wir wollen immer bei der katholischen
Religion bleiben."
Man sieht, wie unterschiedlich Ratsbeschlüsse ausfallen können. Das gilt
selbstverständlich nicht für die heutige Zeit. Jedenfalls blieb in Aalen
zunächst alles, wie es war, bis zum bedeutungsschweren Jahr 1555, in dem der
Augsburger Religionsfrieden verkündet wurde. Auf dem Reichstag zu Augsburg
gab es nach heftigen Ausein-andersetzungen der vorangegangenen 2 Jahrzehnte
vor allem 2 wegweisende Beschlüsse:
- Der Augsburger Religionsfrieden garantierte die Koexistenz beider
Konfessionen. Ein Krieg aus religiösen Gründen sollte künftig als
Landfriedensbruch gelten.
- Cuius regio, eius religio, auf deutsch: Wessen Land, dessen Religion.
Damit galt aber nicht die Wahlfreiheit für die Bürger. Wer nicht den
Glauben seiner Obrigkeit annehmen wollte, hatte lediglich das jus
emigrandi, also das Recht des Wegzugs.
Durch den in Augsburg erzielten Kompromiß
fühlten sich etliche Aalener Bürger ermutig
Mehr oder weniger hielt der Augsburger Religionsfrieden 60 Jahre lang.
Erst mit Ausbruch des dreißigjährigen Krieges, 1618, traten die Gegensätze
erneut auf, und zwar schlimmer als je zuvor. Durch den in Augsburg erzielten
Kompromiß fühlten sich etliche Aalener Bürger ermutigt, sich zum
Protestantismus hinzuwenden. Dies geschah z. B. in Hausandachten oder durch
den Besuch evange-lischer Gottesdienste in Essingen. Der Fürstprobst
schaffte es trotzdem, die Stadt Aalen bei der Stange zu halten. Diesmal mit
finanziellen Zuwendungen, die er nach Aalen fließen ließ.
Dennoch breitete sich in vielen Aalener Familien in den kommenden Jahren das
Gedankengut der Reformation aus. Und dann kam es zum entscheidenden
Glücksfall für die Reformation in Aalen. Die Stadt bekam einen neuen
Ratsschreiber namens Johann Preu. Viele von Ihnen sind an seinem Bildnis
schon oft vorbei gegangen, bewußt oder unbewußt. Das ehemalige Glasfenster
aus der Sakris-tei hängt heute am Turmeingang. Betrachten Sie es nachher
beim Verlassen der Kirche einmal genauer.
Johann Preu, der wohl aus Ingolstadt stammte, wurde die bestim-mende Kraft
der Reformation in Aalen. Mit allen taktischen und juristischen Finessen
betrieb er eine Pendeldiplomatie zwischen dem Fürstprobst einerseits, dem
Hof des evangelischen Herzogs und den evangelischen Reichsstädten
andererseits, die er für eine Unterstützung der Reformation in Aalen
gewinnen konnte. Zusamm-en mit den damals 2 Bürgermeistern arbeitete er
gezielt daraufhin, daß der Rat schließlich entschied, eine Volksbefragung
zur Frage der Einführung der Reformation in Aalen abzuhalten. Diese brachte
ein eindeutiges Ergebnis. Die Stadt hatte etwa 2.000 Einwohner. 350 davon
waren stimmberechtigt. 310 stimmten für die Reform-ation; lediglich 40
dagegen.
Die Reaktion auf dieses Votum waren dunkle Drohungen aus Ellwangen. Doch nun
handelte Herzog Ludwig von Württemberg: Er schickte im Juni 1575 gleich 2
erfahrene evangelische Theologen nach Aalen; zum einen den landesweit
bekannten, in Reforma-tionsdingen äußerst erfahrenen Tübinger
Theologieprofessor Jakob Andreä, und dazu den Pfarrer Adam Salomons. Jakob
Andreä ist übrigens auch auf einem Glasfenster in der Sakristei verewigt.
Über das 4-wöchige segensreiche Wirken Andreäs in Aalen berichtet Pfarrer
Zeller folgendes: „Mit dem 29. Juni 1575 beginnt die evangelische Geschichte
Aalens. Am Feiertag Peter und Paul wurde in der Stadtkirche die erste
evangelische Predigt gehalten. Die ersten 4 Wochen dieser neuen Zeit sind
beherrscht durch die Gestalt Jakob Andreäs. Aalen brauchte einen Prediger,
der das Evangelium so herzandringend verkündete, daß der Widerspruch
verstummen mußte. 4 Wochen lang predigte er abwechselnd mit Pfarrer Salomon,
täglich. Es war eine Art Evangelisation, die in jenen 4 Wochen abgehalten
war". Und in der Tat: nach diesen 4 Wochen war die Bürgerschaft durch und
durch protestantisch gesonnen. Seinen sehr umfänglichen Bericht über die
Aalener Reformation schließ Pfarrer Zeller ab mit folgendem schönen Satz:
„Der Aalener evangelischen Gemeinde möchte man`s für die Zukunft wünschen,
daß sie immer solche Leute habe: aufrechte Christen und fromme Herzen".
Und damit sind wir eigentlich schon bei der Frage: Wie ist es mit dem
Protestantismus in Aalen weitergegangen und wo stehen wir heute? Es würde
den Rahmen dieses Vortrags sprengen, wenn ich die Aalener Kirchengeschichte
seit der Reformation bis heute auf-zeigen wollte. Ich müsste sprechen über
die Zeit der Gegenre-formation, über die Zerstörung der Stadtkirche im
Dreißigjährigen Krieg und ihren Wiederaufbau, über den Einsturz des Turms
der Stadtkirche an Pfingsten 1765, über den Bau der Marienkirche und der
Salvatorkirche als Folge des starken Zuwachses der kath-olischen Bevölkerung
durch die Industrialisierung und ich müßte z. B. auch sprechen über viele
bedeutende evangelische und katholische Pfarrer und Dekane, die ihren Dienst
in dieser Stadt versehen haben.
31.000
Katholiken, 15.000 Protestanten u. So-
nstige (5.000 Muslime) Oktober 2015 in Aalen
Lassen Sie uns jetzt aber einfach einen großen Sprung machen aus dem
Aalener Reformationsjahr 1575 in das Jahr 2014. Der bem-erkenswerteste
Wandel ist zweifellos der: Durch Zuwanderung wegen Arbeit, durch Zuwanderung
wegen Flucht und Vertreibung und durch Eingemeindungen hat die ehemals
evangelische Reichsstadt heute wieder eine klare Mehrheit an katholischen
Christen. In der Gesamtstadt Aalen leben derzeit rd. 15.000 Prot-estanten
und rd. 31.000 Katholiken. Daneben gibt es die große Gruppe der Sonstigen
mit rd. 19.000 Menschen, unter ihnen etwa 5.000 Muslime.
Auch in der Kernstadt gibt es eine deutliche Mehrheit der Katholiken. Der
Prozentsatz beträgt hier 40:25 %. Und beide Kirchen haben im letzten
Jahrzehnt kontinuierlich an Mitgliedern verloren. Jeweils etwa 10 %. Was
bedeutet nun dies alles für die bevorstehenden Reformationsfeierlichkeiten?
Meines Erachtens 3-erlei:
- Fortsetzung des ökumenischen Aufeinanderzugehens
- Engagement im Sozialbereich aus christlicher Verantwortung
- Unverdrossene Verkündigung der frohen Botschaft
Lassen Sie mich am Schluß meiner Ausführungen auf diese 3
Punkte kurz eingehen, sozusagen als meinen Geburtstagswunsch zum 500.
Reformationsgeburtstag.
Erster Wunsch: Fortsetzung des ökumenischen Aufeinander zugehens. Ich
glaube, noch nie seit der Reformation hat es in unserer Stadt ein so
entspanntes Verhältnis zwischen den Christen beider Konfessionen gegeben,
wie heute. Auf keinen Fall dürfen die Reformationsfeierlichkeiten daran
etwas ändern. Ganz im Gegenteil: sie sollten ein weiteres Zusammenrücken
fördern.
Dabei hilfreich sollte die gemeinsame Erkenntnis sein, daß es vor der
Reformation in der Kirche schlimme Mißstände gab, die dringend einer Abhilfe
bedurften.
Aus heutiger Sicht sollte ein weiteres Aufeinanderzugehen auch du-rch die
Erkenntnis möglich sein, daß trotz mancher unterschied-licher Auffassungen
etwa bzgl. des Papsttums oder des Abendmahls das viel entscheidendere der
gemeinsame christliche Glaube ist. In einem immer säkulareren Umfeld sollte,
ja muß einfach das Einende und nicht das Trennende das Miteinander der
Christen bestimmen.
Wunsch: Fortsetzung
des Engagementes im
Sozialbereich aus christlicher Verantwortung
Ich komme zu meinem zweiten Geburtstagswunsch, nämlich dem Wunsch nach
Fortsetzung des Engagements im Sozialbereich aus christlicher Verantwortung.
Ein einigendes Band zwischen den Konfessionen ist zweifellos die Übernahme
sozialer Verantwortung für Menschen in Not auf der Grundlage des
Gleichnisses vom barmherzigen Samariter.
Man stelle sich einmal vor, die Kirchen würden von heute auf morgen dieses
Feld komplett dem Staat und den Kommunen überlassen. Unsere Gesellschaft
würde nahezu zusammenbrechen, wäre jedenfalls in ihrer heutigen
menschlichen, sozialen Ausprä-gung nicht mehr denkbar.
Auch alle, die meinen, sie müßten wegen der Kirchensteuer aus der Kirche
austreten, seien in diesem Kontext an die gesell-schaftliche Bedeutung
unserer Kirchen erinnert von Kindergärten über soziales Engagement für
Kranke und Alte bis hin zu psychisch Kranken oder Asylbewerbern. Sie seien
erinnert an das Engagem-ent für Familien, für Obdachlose und für die 3.
Welt.
Als Stadtoberhaupt war ich jedenfalls immer außerordentlich dank-bar für
dieses vielfältige christliche Engagement für den Nächsten. Darüber hinaus
bin ich aber auch dankbar für den aufwändigen Unterhalt unserer großartigen
Kirchen in Deutschland, wie z. B. unserer Stadtkirche hier im Herzen der
Stadt. Diese Kirchen demonstrieren in sinnbildlicher Weise, aus welcher
christlichen Tradition wir in Europa kommen, einer Tradition, zu der wir uns
gerade auch heute klar bekennen sollten.
Und schließlich mein letzter Wunsch: Möge dieses Reformations-jubiläum dazu
beitragen, daß auch künftig evangelische Pfarrer von unserer
Stadtkirchenkanzel unerschrocken und unverdrossen im Geiste Martin Luthers
die frohe Botschaft in die Stadt hineintragen. Möge es ihnen gelingen durch
ihr Wirken dazu beizutragen, daß auch beim 600 jährigen Reformationsjubiläum
frei nach Stadtpfarrer Zeller es in dieser Stadt „noch viel aufrechte
Christen und fromme Herzen gibt". Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
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